Reverse Charge Verfahren
veröffentlicht am 31.01.2023
Reverse Charge Verfahren
„Reverse-Charge-Verfahren“, auch „Umkehr der Steuerschuldnerschaft“ genannt oder schlicht „13b“ – hierunter wird die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft für im Inland steuerbarere Umsätze auf den Leistungsempfänger bezeichnet.
Aber was bedeutet das und für wen? Und warum wurde dieses Verfahren im Jahr 2010 eingeführt und seither auf immer mehr Fallgestaltungen ausgeweitet? Wie funktioniert das Reverse-Charge-Verfahren und was ist dabei zu beachten? – Diesen Fragen gehe ich in einem ersten Beitrag zu diesem Verfahren auf den Grund.
Was bedeutet Reverse-Charge-Verfahren?
Reverse-Charge-Verfahren führt zur Verlagerung der Steuerschuldnerschaft
Als Reverse-Charge-Verfahren wird die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft für im Inland steuerbare Umsätze auf den Leistungsempfänger bezeichnet (§ 13b UStG). Man spricht auch von der Umkehr der Steuerschuldnerschaft, weil in bestimmten Fällen der Leistungsempfänger – und gerade nicht der leistende Unternehmer – die Umsatzsteuer schuldet.
Dies bedeutet, dass nicht der leistende Unternehmer die anfallende Umsatzsteuer in seiner Rechnung ausweist und an das Finanzamt abführt (=> Regelfall nach § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG). Stattdessen meldet der Leistungsempfänger diese Umsatzsteuer im Rahmen seiner Umsatzsteuererklärung gegenüber dem Finanzamt an und führt diese ab (=> Reverse-Charge-Verfahren, d.h. Leistungsempfänger als Steuerschuldner nach § 13b Abs. 1 UStG).
Reverse-Charge-Verfahren und Vorsteuerabzug
Ist der Leistungsempfänger hinsichtlich der von ihm bezogenen Lieferung oder sonstigen Leistung vollständig zum Vorsteuerabzug berechtigt, kann er die im Rahmen des Reverse-Charge-Verfahrens anzumeldende Umsatzsteuer bei der Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldung bzw. Umsatzsteuer-Jahreserklärung mit seinem Vorsteueranspruch verrechnen. Eine Zahllast entsteht insoweit nicht.
Gesetzliche Anwendungsfälle nach § 13b UStG
Das Reverse-Charge-Verfahren ist dann anzuwenden, wenn ein im Inland steuerbarer Umsatz von einem Unternehmer an einen anderen Unternehmer ausgeführt wird und dieser Umsatz unter einen der folgenden Tatbestände fällt:
- Ein im EU-Ausland ansässiger Unternehmer erbringt eine sonstige Leistung an einen anderen Unternehmer (=> B2B-Grundfallleistung nach § 3a Abs. 2 UStG, § 13b Abs. 1 UStG).
- Es liegt eine Werklieferung oder sonstige Leistung eines im Ausland ansässigen Unternehmers vor und diese ist nicht bereits durch den Grundfall umfasst (§ 13b Abs. 2 Nr. 1 UStG).
- Sicherungsübereignete Gegenstände werden außerhalb eines Insolvenzverfahrens geliefert (§ 13b Abs. 2 Nr. 2 UStG).
- Der Umsatz fällt unter das Grunderwerbsteuergesetz (§ 13b Abs. 2 Nr. 3 UStG).
- Es wird eine Bauleistung an einen Bauleister erbracht (§ 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG).
- Es handelt sich um eine bestimmte Lieferung von Wärme, Strom, Gas oder Kälte (§ 13b Abs. 2 Nr. 5 UStG).
- Es wird mit Emissionszertifikaten gehandelt (§ 13b Abs. 2 Nr. 6 UStG).
- Abfallstoffe gem. Anlage 3 zum UStG werden geliefert (§ 13b Abs. 2 Nr. 7 UStG).
- Es werden Gebäudereinigungsleistungen an Gebäudereinigungsdienstleister erbracht (§ 13b Abs. 2 Nr. 8 UStG).
- Es handelt sich um bestimmte Goldlieferungen (§ 13b Abs. 2 Nr. 9 UStG).
- Es werden Mobilfunkgeräte, Tablet Computer, Spielekonsolen oder integrierte Schaltkreise (Computerchips) vor Einbau in einen zur Lieferung auf der Einzelhandelsstufe geeigneten Gegenstand unter bestimmten Bedingungen geliefert (§ 13b Abs. 2 Nr. 10 UStG).
- Es werden bestimmte Metalle (=> vgl. Anlage 4 zum UStG) geliefert (§ 13b Abs. 2 Nr. 11 UStG).
- Es werden sonstige Leistungen auf dem Gebiet der Telekommunikation erbracht, die nicht vom Grundfall umfasst werden, z.B. die Zurverfügungstellung von Lizenzen und Konzessionen für die Nutzung von Software (§ 13b Abs. 2 Nr. 12 UStG)
Zwar knüpft das Reverse-Charge-Verfahren wesentlich an Umsätze zwischen Unternehmern (B2B) an, es kommt unter den Voraussetzungen des § 13b Abs. 5 Sätze 1 bis 5 i. V. mit § 13b Abs. 5 Satz 7 UStG allerdings auch zur Anwendung, wenn eine Leistung für den nichtunternehmerischen Bereich (B2C) bezogen wird.
Eine Ausnahme gilt diesbezüglich bei einer Leistungserbringung an die öffentliche Hand – juristische Personen des öffentlichen Rechts schulden die Steuer nicht, wenn sie bestimmte Leistungen für ihren nichtunternehmerischen Bereich beziehen (§ 13b Abs. 5 Satz 11 UStG).
Welchen Sinn und Zweck erfüllt das Reverse-Charge-Verfahren?
Sicherung des Steueraufkommens und der Vereinfachung der Steuerdeklaration bei Auslandssachverhalten
Das Reverse-Charge-Verfahren dient der Sicherung des Steueraufkommens und der Vereinfachung der Steuerdeklaration bei Auslandssachverhalten.
Durch die Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger entfällt die ansonsten insoweit eintretende Verpflichtung des im Ausland ansässigen Unternehmers, sich in Deutschland umsatzsteuerlich registrieren zu lassen.
Es leuchtet ein, dass die Steuererhebung des Fiskus durch das Reverse Charge Verfahren deutlich vereinfacht wird, denn der Zugriff auf inländisches Vermögens eines Steuerschuldners ist bedeutend einfacher als der Zugriff auf ausländisches Vermögen.
Ausweitung der Anwendung auch auf reine Inlandssachverhalte mit erhöhter Betrugsanfälligkeit
Zunehmend findet das Reverse-Charge-Verfahren aber auch in reinen Inlandssachverhalten Anwendung.
Dies gilt insbesondere dann, wenn infolge der Art und Weise der ausgeführten Lieferungen oder sonstigen Leistungen eine erhöhte Betrugsanfälligkeit befürchtet oder bereits festgestellt wurde. Beispielhaft ist hier die Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens bei Lieferungen von Tablet-PCs, Metallen oder Emissionshandelsgeschäften zu nennen, die häufig Gegenstand sog. Karussellgeschäfte waren [1].
Ausweitung der Anwendung auf reine Inlandssachverhalte in Branchen mit hohem Insolvenzrisiko
Ein weiterer Anwendungsfall des Reverse-Charge-Verfahrens für reine Inlandssachverhalte sind Branchen mit hohem Insolvenzrisiko wie die Bau- und die Gebäudereinigungsbranche.
In diesen Branchen waren vor der Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens deutliche Umsatzsteuerausfälle für den Staat zu verzeichnen, da der leistende Unternehmer häufig Umsatzsteuerbeträge in seinen Rechnungen ausgewiesen hat, die vom Leistungsempfänger als Vorsteuer abgezogen wurden. Infolge der Insolvenz des leistenden Unternehmers wurden diese Umsatzsteuerbeträge jedoch nicht an das Finanzamt entrichtet, so dass sich für den Fiskus ein Negativsaldo ergab [2].
So geht die Steuerschuldnerschaft für Bauleistungen auf den Auftraggeber über, wenn dieser selbst nachhaltig Bauleistungen erbringt; bei Gebäude- und Fensterreinigungsleistungen geht die Steuerschuldnerschaft also dann auf den Auftraggeber über, wenn dieser nachhaltig Gebäude- und Fensterreinigungsleistungen erbringt.
Eine nachhaltige Bautätigkeit ist zu bejahen, wenn der Leistungsempfänger mindestens zehn Prozent seines Weltumsatzes als Bauleistungen erbringt. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, entscheidet das Finanzamt durch eine Bescheinigung, die der Leistungsempfänger beantragen kann und deren Gültigkeit maximal drei Jahre beträgt.
Sobald ihm das Finanzamt eine Bescheinigung erteilt hat, dass er nachhaltig Bauleistungen bzw. Gebäude- und Fensterreinigungsleistungen erbringt, ist er zur Abführung der Umsatzsteuer verpflichtet. Dies gilt auch dann, wenn er die Bescheinigung nicht vorlegt. Der Auftraggeber hat daher kein Interesse daran, die Bescheinigung zu verschweigen und fügt sie in der Regel der Auftragsbestätigung bei.
Auch Unternehmensgründer oder Unternehmen, die erstmalig Bauleistungen ausführen wollen, können eine solche Bescheinigung beantragen. Sie wird erteilt, wenn der Unternehmer nach außen erkennbar mit den ersten Handlungen zur nachhaltigen Erbringung von Bauleistungen begonnen hat und die Bauleistungen voraussichtlich mehr als zehn Prozent seines Weltumsatzes betragen werden.
Bauträger, die ausschließlich eigene Grundstücke bebauen und anschließend verkaufen, erhalten die Bescheinigung nicht, da die Bebauung und der Verkauf eigener Grundstücke keine Bauleistung ist, sondern eine Lieferung darstellt.
Sobald die Bescheinigung erteilt worden ist, ist der Leistungsempfänger in jedem Fall Schuldner der Umsatzsteuer. Dies gilt selbst dann, wenn er die Bescheinigung nicht gegenüber dem leistenden Bauunternehmer verwendet. Er muss also die Umsatzsteuer einbehalten und an das Finanzamt abführen. Der leistende Bauunternehmer erhält vom Leistungsempfänger nur den Nettobetrag. Durch Vorlage der Bescheinigung braucht er jedoch keine Inanspruchnahme durch den Fiskus zu befürchten.
Diese vorstehenden Grundsätze gelten auch für Gebäudereinigungen.
[1] Vgl. u. a. BR-Drucks. 4/10 (B) S. 13; BR-Drucks. 107/10 S. 4 [2] Vgl. BT-Drucks 15/1502
Welche Wirkung entfaltet das Reverse-Charge-Verfahren?
Die Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens führt zu einem Übergang der Schuldnerschaft auf den Auftraggeber. Dies hat zur Folge, dass der leistende Unternehmer (Auftragnehmer) die Umsatzsteuer an das Finanzamt abführen muss.
Trotz der Steuerschuldnerschaft des Auftraggebers bleibt der Auftragnehmer aber zur Ausstellung einer Rechnung verpflichtet, die alle Pflichtangaben einer Rechnung mit Ausnahme des Steuerbetrags und Steuersatzes enthalten muss.
Zusätzlich muss er in der Rechnung darauf hinweisen, dass der Rechnungsempfänger, also der Auftraggeber, die Umsatzsteuer schuldet. Hierfür ist folgende Formulierung vorgeschrieben: „Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers“ (oder durch eine entsprechende Übersetzung in einer anderen EU-Sprache).
Der Leistungsempfänger hat dann zwar die Umsatzsteuer an das Finanzamt abzuführen, kann aber gleichzeitig die Vorsteuer in gleicher Höhe geltend machen.
Gibt es so etwas wie Vertrauensschutz in Zweifelsfällen?
In Zweifelsfällen können sich die Vertragspartner auf einen Vertrauensschutz berufen, wenn sie zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Leistungsempfänger Schuldner der Umsatzsteuer geworden ist. Der Leistungsempfänger bleibt dann Steuerschuldner.
Zusammenfassung
In diesem ersten Beitrag zu dem Thema „Reverse-Charge-Verfahren“ ging es mir in erster Linie darum, den Sinn und Zweck der Vorschrift zu beschreiben und zu erläutern, für wen sie bestimmt ist und warum sie eingeführt wurde.
Als Reverse-Charge-Verfahren wird die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft für im Inland steuerbare Umsätze auf den Leistungsempfänger bezeichnet (§ 13b UStG). Man spricht auch von der Umkehr der Steuerschuldnerschaft, weil in bestimmten Fällen der Leistungsempfänger – und gerade nicht der leistende Unternehmer – die Umsatzsteuer schuldet. Die Einführung des Verfahrens im Jahr 2010 sollte der Sicherung des Steueraufkommens und der Vereinfachung der Steuerdeklaration bei Auslandssachverhalten dienen. Inzwischen wurde das Reverse-Charge-Verfahren auch auf bestimmte Inlandssachverhalte mit erhöhter Betrugs- und Insolvenzanfälligkeit ausgedehnt.